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Erleuchtungsfalle

Autorenbild: lukas meyerlukas meyer

Erleuchtung beschreibt einen Zustand, in dem ein Mensch sich als Teil einer Einheit mit der gesamten Existenz wahrnimmt. In diesem Moment ist die Trennung, die wir normalerweise durch die ständige Wertung unseres Verstandes spüren, vorübergehend aufgehoben. Solche Erfahrungen können spontan auftreten oder durch spirituelle Praktiken beziehungsweise den Konsum psychoaktiver Substanzen hervorgerufen werden. Sobald die Erfahrung zu Ende geht, beginnt das Ego (das getrennte Selbst) nach und nach zurückzukehren. Die wahre Herausforderung besteht nun darin, mit der erlebten Erfahrung umzugehen. Das Ego, das sich nun an die Erinnerung dieser transzendenten Erfahrung klammert, hat Schwierigkeiten, diese zu verarbeiten. Es tendiert dazu, alles in „gut oder schlecht“, „deins und meins“ zu unterteilen. Die Falle liegt darin, dass das Ego beginnt, zu glauben, es sei die Einheit, die es erfahren hat. In extremen Fällen kann es sogar soweit gehen, dass das Ego denkt, es sei Gott. Dies markiert die absolute spirituelle Stagnation, da das Ego eine tief verwurzelte Überzeugung entwickelt, bereits auf allen Ebenen alle Ziele erreicht zu haben. Gleichzeitig verteidigt es nun seine Wahrnehmung, weil diese zu seinem neuen Selbstbild geworden ist.


Dieser Prozess erklärt sich dadurch, dass in einer transzendenten Erfahrung alle menschlichen Masken, die das Ego bisher gebildet hat, als Illusion erkannt werden. Um zu überleben, muss das Ego seine Identifikationen auf einen anderen Bereich verlagern. Hierbei handelt es sich um die Identifikation mit der Nicht-Identifikation. Im Verlauf dieses Prozesses beginnt der Mensch oft, sich von allem, was als menschlich angesehen wird, zu dissoziieren, weil er es als Illusion abtut. Ein solches Verhalten lässt sich häufig bei Psychosen beobachten, die durch den Konsum psychoaktiver Substanzen oder starken Traumata ausgelöst werden. Der Umgang mit solchen Menschen ist komplex und verlangt ein tiefes Verständnis des beschriebenen Prozesses. Der Schlüssel besteht darin, zu erkennen, dass diese Erfahrung nicht das Ende, sondern der Beginn echten spirituellen Wachstums ist. Man wird sich bewusst, dass die Masken, die man bis dahin getragen hat, lediglich Produkte der eigenen Vergangenheit sind und nicht das wahre Selbst widerspiegeln. Gleichzeitig kann es sein, dass man in diesem Prozess eine innere Wahrheit spürt. Jeder Mensch hat einen unveränderlichen Kern, der immerwährend da ist und nicht durch äußere Einflüsse geformt wurde. Dies wird besonders deutlich bei Geschwistern, die trotz gleicher Erziehung sehr unterschiedliche Wesenszüge entwickeln. Man könnte diesen inneren Kern „Seele“ nennen. Sobald man mit diesem Kern in Kontakt tritt, beginnt die Rückkehr zum Menschsein. Man hat alles losgelassen und beginnt nun, das Echte vom Unechten zu unterscheiden und die eigene Seele anzunehmen. Dabei wird klar, dass der Wesenskern eines Menschen etwas Einzigartiges ist, das sich in dieser Welt ausdrücken möchte. Oft sind damit besondere Talente verbunden, die jedoch sehr unterschiedlich sein können. Der eine ist musikalisch begabt, der andere hat ein außergewöhnliches technisches Verständnis oder ein tiefes Einfühlungsvermögen für andere Menschen. Jeder Mensch trägt in sich Qualitäten, die durch ihn in die Welt kommen wollen. Für diejenigen, die sich auf die Suche nach ihrem Wesenskern machen, wird es zunehmend möglich, diese inneren Anlagen zu entdecken und ihnen Raum für Ausdruck zu geben.


Setzt man diesen Prozess fort, wird deutlich, dass es zwei verschiedene Formen von Erleuchtung gibt. Einerseits gibt es die reine Erfahrung des Einsseins, die durch viele verschiedene Dinge ausgelöst werden kann. Man könnte dies als spirituelles Erwachen bezeichnen. Andererseits gibt es eine Form der Erleuchtung, in der man sich der transzendenten Natur aller Dinge bewusst wird, gleichzeitig aber erkennt, dass man in dieser Einheit ein individuelles Wesen mit eigenen Charaktereigenschaften ist. Diese beiden Ebenen schließen sich nicht gegenseitig aus. Um diese Erkenntnis in das Leben zu integrieren, bedarf es oft eines jahrelangen Prozesses, in dem man Schritt für Schritt alle alten Geschichten aufarbeitet, die verhindern, dass man den eigenen Wesenskern lebt und sich ungehindert ausdrückt. Viele Menschen durchlaufen gerade einen solchen Prozess. Wenn man sich darüber bewusst ist und versteht, dass all die Symptome, die einem zunächst Angst machen, dazu gehören, kann man viel entspannter und mit einer gewissen Leichtigkeit durch diesen Prozess gehen. Vielleicht ist man sogar in der Lage, mögliche Stolpersteine frühzeitig zu erkennen.


Am Ende sind wir wie die Äste eines Baumes. Der eine Ast ist größer, der andere kleiner, der eine hat mehr Sonne abbekommen, der andere weniger. Vielleicht erkennt ein Ast, dass es eigentlich keinen Unterschied zwischen ihm und dem Baum gibt. Doch dennoch bleibt er ein Ast und erfüllt während seiner Lebenszeit seine Bestimmung ein individueller Teil des Baumes zu sein.


 
 
 

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